Textatelier
BLOG vom: 16.01.2016

Flüchtlinge erleben West-Europa als Kulturschock

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Immer, wenn von aussen kommendes Kulturverständnis auf inländisches unterschiedliches stösst, sind Konflikte unvermeidlich. Diese Tatsache ist nicht erst seit letztem und diesem Jahr mit der grossen Zahl von Flüchtlingen, die nach Deutschland eingeströmt sind, bekannt. Oft ist es ein regelrechter Kulturschock für sie.

Es ist inzwischen hinreichend erkannt, dass man Menschen fremdländischer Herkunft nicht einfach assimilieren kann, also zu unserem Kulturverständnis „umpolen“, sondern es kann nur versucht werden, ihnen unsere Lebensweise näher zu bringen, um eine Akzeptanz zumindest ansatzweise zu erreichen.

Dabei sollen, ja müssen Migranten lernen, dass sie als die neuen Mitbürger sich anders  verhalten müssen als im eigenen Herkunftsland, dass Demokratieverständnis, Freizügigkeit, Homosexualität, freie Meinungsäusserung usw. zur Lebensgrundlage in den Ländern, in die sie geflüchtet oder ausgewandert sind, gehören, und die sich von ihren bisherigen Kulturerfahrungen unterscheidet.

Die Inanspruchnahme von Gastrecht darf nicht missbraucht werden. Man könnte meinen, dass Menschen, die bisher in ihren, meist muslimisch geprägten Ländern aufgewachsen sind, auf die Lebensweisen in den westlichen Ländern sehen und sie erfahren, zuerst einmal abgestossen oder befremdet reagieren, aber sie auch falsch interpretieren. Frauen, die sich nicht so verhüllt zeigen, wie dies in muslimischen Ländern vorgeschrieben ist, sind deshalb kein „Freiwild“, wie es einige Flüchtlinge scheinbar denken, wenn sie sich ihnen nähern. Es muss befremden, leicht und modisch gekleidete Menschen,  junge Pärchen Hand in Hand oder sich küssend, in den Strassen zu sehen, homosexuelle Paare zu beobachten, die ihre sexuelle Neigung nicht schamvoll verstecken, und zu sehen, wie junge Menschen miteinander flirten. Dennoch ist ein „Nein“ und eine Ablehnung zu einer „Anmache“ durch die Frau (oder den Mann) so gemeint, und dient nicht dem Anreiz, weiter zu machen, um die Meinung doch noch ändern zu können.

Manchen jungen Männern mit muslimisch geprägter Lebensauffassung könnte die westliche Lebensweise wie das Paradies vorkommen, das ihnen nur nach dem Tod im Sinne des Propheten als erreichbar bekannt war. Ihnen könnten Frauen in unserem Kulturkreis ebenso „willig“ erscheinen, wie es die zu erstrebenden Jungfrauen im muslimischen himmlischen Paradies sein sollen. Also: warum so lange warten und nicht schon „auf Erden zugreifen“? Eine Ablehnung ist dabei für einen Mann aus patriachalisch geprägten Kulturen unakzeptabel. Wie schnell kann da eine Verhaltensweise im Sinne von „und bist du nicht willig, so brauche ich Gewalt“ aufkommen?

Es ist also von Nöten, westliches Kulturverständnis, ebenso wie gesetzliche Grundlagen und richtiges Verhalten zu vermitteln. Es muss von Anfang an mit der Sprachvermittlung und mit „was darf ich“ und „was darf ich nicht“ oder „was ist akzeptiertes Verhalten und was ist es nicht“ begonnen werden.

Das dürfte nicht ganz einfach werden, besonders, wenn die muslimische Glaubenskultur im Verständnis der Gläubigen als die „einzig wahre und richtige“ angesehen wird und Andersgläubige in den Augen der Muslime verachtenswert sind.

Das verlangt also auch noch Toleranz gegenüber Anders- oder Ungläubige, ob Christen oder Juden oder Atheisten, also ein teilweises „Abfallen“ vom Glauben, wenn dieser bisher eine streng und intensiv gelebte Lebensweise gewesen ist. Wie schwer das ist, erleben wir hierzulande an strenggläubigen Christen oder Sektenanhängern, wie etwa bei den Zeugen Jehovas oder den Scientologen, die sich auch nicht vorstellen können, ihren Glauben teilweise „zu verraten“.

Es wird sogar erwartet, so kann man es interpretieren, das Lächerlichmachen oder in den Schmutzziehen von Glaubensinhalten und Glaubensführern durch Satire oder Komik, als zu tolerierendes, da „freiheitliches“ Verhalten, zu akzeptieren.

Gewaltverzicht jeder Art als Grundlage unserer westlichen Kultur einzuüben und in verbale Kritik und friedliche Demonstration umzuformen, erscheint da vielen als kaum denkbar. Es ist aber unbedingt erforderlich. Das Gewaltmonopol liegt einzig und allein bei den Ordnungskräften und der politischen Führung.

Also darf die Erziehung der eigenen Kinder nicht mit Mitteln körperlicher oder psychischer Gewalt ausgeübt werden, sogar dann nicht, wenn droht, dass das Kind sich vom Glauben und der angestammten Kultur entfernt.

Es ist also nicht einfach „ein Anpassen“ an die westliche Lebensweise, es ist „ein Umkrempeln“, eine Totalumkehr bisheriger kultureller Identität, von Verhaltensweisen und innerlich fest zementierten Wertvorstellungen.

So ist es nicht verwunderlich, wenn sich Menschen aus derselben Kultur, Angehörige derselben Religion zusammen finden und sich in ihrem gelebten Alltag von der so fremden andersartigen Lebensweise abwenden, um ihr eigenes Selbstverständnis zu bewahren.

Es geht nicht ohne eine gegenseitige Akzeptanz unterschiedlicher Lebensauffassungen. Es geht nicht ohne die Akzeptanz aller für ein Demokratie- und Lebensverständnis auf der Grundlage der in diesem Land bestehenden Gesetze. Es geht nicht ohne Verzicht auf die diesen Grundsätzen widersprechenden Verhaltensweisen kulturfremder Religionsinhalte.

Das alles muss den Neuankömmlingen und den in unserem Land bereits lebenden Migranten vermittelt werden, in Integrationskursen, in Schulen aller Art, in Gesprächen und im täglichen Miteinander.

Das Nebeneinander wird nicht immer zu einem Miteinander führen, kann es aber, und damit positiv und kulturbereichernd sein, solange es freiwillig und ohne Zwang geschieht. Dieser Prozess wird uns alle verändern, so wie es Völkerwanderungen
und Wanderprozess immer schon getan haben.

 


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